„Die Tiktokisierung des Radios“ nannte der legendäre Kollege John Ment kürzlich in einem Interview mit Horizont die Problematik, mit der wir in Zeiten von Social Media zurechtkommen müssen. Danke, John! Besser kann man es nicht formulieren! Diese „Tiktokisierung“ ist die neue Realität, die wir bespielen müssen, zu oft aber nicht tun.
Einer der häufigsten Fehler, die wir zurzeit im deutschen Radio machen ist, den falschen Inhalt zu senden bzw. zu verkennen, wie lange ein Inhalt wirklich trägt.
Diese sechs Fallen lauern beim Thema „Content 2024“:
- Die Erwartungen an das Radio 2024
- Der Wettbewerb im Zeitalter von 5G und DAB+
- Die Massentauglichkeit von Themen
- Gewinnspiele und deren Umsetzung on Air
- Experten, O-Töne und „Tageszeitungs-Appeal“
- Das Sender Image
- Erwartungen an Musiksender im Jahr 2024
Die Erwartung an Musiksender ist ganz klar: Unterhaltung. Ich darf jedes Jahr Studien und Marktforschungen von x Sendern sehen und tauche darüber hinaus immer wieder intensiv in die Sinus-Milieu-Studien ein. Hörer sagen überall in diesen Studien und Marktforschungen übereinstimmend, was sie von ihrem Lieblingssender in Sachen Content erwarten:
- Unterhaltung
- Moderatoren, die eine gute Stimmung verbreiten
- Warme und herzliche Moderatoren „auf meiner Wellenlänge“
(Fast) alle kommerziellen Musiksender sind also ein Unterhaltungsmedien und werden genutzt…
- …um schlechte Stimmung zu vertreiben und in gute Stimmung zu kommen
- …oder um gute Stimmung zu verlängern.
Wenn Musik der erste Einschaltgrund ist und Unterhaltung der zweite, warum langweilen wir unsere Hörer so gerne mit überbordend langen Gewinnspiel-Aufrufen und -PayOffs? Mit Beiträgen, die eine Relevanz für vielleicht fünf Prozent der Hörer haben? Mit Aktionen, die echte Stimmungskiller sind, weil sie sich mit schrecklichen Krankheiten, Leid und Elend beschäftigen? Natürlich ist das auch das Leben. Aber dafür werden wir nicht eingeschaltet. Wer „schlechte Nachrichten“ hören will, nutzt Nachrichten- und Infoformate der Öffentlich-Rechtlichen.
Bei den RDE in München Ende März habe ich zwei Vorträge von BBC-Radio-1-Kollegen gesehen: auf der Bühne waren Programmchef Aled Haydn Jones und Morgenshow-Host Greg James zusammen mit seiner Producerin Vinuri Perera. Die Kollegen zeigten beeindruckende Zahlen:
In GB liegt der Weekly Cume bei 15-24 jährigen bei 89 Prozent! 77 Prozent aller 15-24 jährigen immer noch täglich Radio. Bei uns sind es in der wohlgemerkt breiteren Zielgruppe der 14-29jährigen gute zehn Prozent weniger, die täglich das Radio einschalten (in 15-24 vermutlich noch weniger…). Die Hälfte aller jungen Menschen in GB hört regelmäßig BBC Radio 1.
Auf diesem Sender geht es nie um klassische Themen (Ausnahmen zu nationalen Großereignissen wie der Beerdigung der Queen oder der Krankheit von Herzogin Kate bestätigen die Regel). Dort geht es den ganzen Tag um Musik und Entertainment. Das Morgenteam ist nie auf der Suche nach einem „Thema“ sondern nach lustigen Stunts, verrückten Aktionen, nach den besten Hörern mit den unterhaltsamsten Storys oder nach crazy Pranks, die man mit Stars machen kann. Das Team geht immer die extra Meile, um den noch witzigeren Dreh zu finden…
Reinhören und sich ein „Audio-Bild“ machen lohnt sich.
Auch Capital FM UK z.B. macht morgens vor allem eines: gute Musik und jede Menge Spaß!
Wir in Deutschland dagegen machen gerne „Interviews“, „lokale Themen“ und „bunte Meldungen“. Und wundern uns, wenn es mit den Ratings nicht so recht klappt…
- Der Wettbewerb
Alles, was wir senden, muss also zwangsläufig mindestens genauso stark sein, wie eine super Comedy bei Wettbewerb 1 und der neue Hit von Taylor Swift bei Wettbewerb 2. Vom Wettbewerb auf TikTok und Co ganz zu schweigen. Denn wir konkurrieren 24/7 mit allem. Nicht nur mit dem Radiosender auf der Frequenz nebenan. Alle wollen etwas vom Zeitbudget des Konsumenten abhaben: die Socials, Streamingdienste, Podcasts usw. und all diese „anderen“ sind 24/7 auf dem Handy verfügbar.
- Massentauglichkeit:
Gerne vergessen wir bei der Content-Gestaltung auch die unterschiedlichsten Lifestyle-Gruppen bzw. Sinus-Milieus mit unterschiedlichsten Interessen, die ein breites AC- oder Hot-AC-Format zufrieden stellen muss. Der Content muss also so stark sein, dass er möglichst viele Zielgruppen vereint. Wenn ein „Beitrag“ sich z.B. an all die wendet, die sich für die neue Kunstausstellung im hiesigen Museum interessieren, ist das schön für diese zwei Prozent…
Außerdem gibt es mittlerweile zu jedem Themenfeld einen Podcast. Zu jedem. Wer sich also für ein klassisches „Thema“ interessiert, findet dazu auf allen möglichen Plattformen reichlich Input.
- Gewinnspiele falsch verstehen
Ich liebe nach wie vor Radio und höre, wann immer ich kann, querbeet Radio in Deutschland. Und oft denke ich „schade“… Die häufigsten Content-Fehler höre ich bei Aktionen und Gewinnspielen.
Wir machen Gewinnspiele für die, die nicht mitspielen, denn das ist die Mehrheit und betrifft 90-95 Prozent der Hörer. Wenn ein Gewinnspiel nicht sehr unterhaltsam ist, weil man z.B. nicht umhin kann mitzuraten, sind also 90-95% der aktuell Zuhörenden weder am Aufruf dafür noch am Pay Off dazu interessiert.
Klar lässt sich ein Aufruf oder PayOff nicht in zehn Sekunden erledigen. Aber zwei Minuten sind dann doch reichlich übertrieben. Und niemand – wirklich niemand – schaltet einen Musiksender ein, um zwei Minuten zuzuhören, wie ein Name von jemandem gezogen wird, der jetzt gleich die Chance hat, etwas zu gewinnen.
- Experten, O-Töne und die Tageszeitung im Radio
Die Kollegen vom SAT1 Frühstücksfernsehen dominieren mit Marktanteilen um die 15 Prozent den TV-Markt am Morgen. Einer der Erfolgsparameter: es gibt (fast) keine „Experten“. Die Experten sind immer Teil des Teams bzw. des Casts und hatten so über Jahre die Chance, sich in die Herzen der Zuschauer zu moderieren. Jeder dieser „Team-Experten“ ist an sich ein Star-Moderator: präsent, redegewandt, unterhaltsam, auf den Punkt.
Im deutschen Radio dagegen machen wir es gerne wie folgt: wir haben ein halbwegs „sexy“ Thema…und dann suchen wir uns irgendeinen „Experten“ dazu. Was wir zu oft nicht tun: hinterfragen, wie gut der Experte klingt, wie fesselnd sein Content und seine Präsentation sind, wie er zu unserem angestrebten Sound und Image passt.
In den Socials findest du die coolsten Experten, die reden können! Warum suchen wir unsere Experten oft noch in den „Gelben Seiten“ ?
Bei 104.6 RTL habe ich kürzlich eine gute „Experten-Umsetzung“ gehört: die O-Ton-Geberin zum Thema „Foodtrends – Neues im Supermarktregal“ war eine super unterhaltsame Food-Influencerin. Win-Win-Win – der Sender profitiert von der Influencerin, die Influencerin vom Sender und der Hörer vom unterhaltsamen Content.
Und dann die klassischen „lokalen Geschichten“…
Wir alle wissen, dass der Tageszeitungs-Leser eine aussterbende Gattung ist und dennoch höre ich noch viel zu oft „lokale Geschichten“ im Radio, die genauso in der Tageszeitung stehen könnten. Merke: Wenn eine Geschichte so in der Tageszeitung stehen kann, ist sie für ein modernes Unterhaltungsradio nicht geeignet.
- Das Sender Image
Alles, was wir senden, bestimmt unser Image. Mit welchem Sound-Bild im Gehirn des Konsumenten gehen wir nach Hause, wenn wir überbordend lange Gewinnspiel-Pay-Offs senden, dazu „lokale Geschichten, „bunte Meldungen“ und „Experten-Interviews“?
Ich denke, dass zumindest ein Teil unserer Ratings-Probleme hausgemacht ist. Von klaren Musikformaten und optimaler OAP habe ich hier im Januar und Februar schon geschrieben. Optimierungspotential im deutschen Radio höre ich auch im Bereich Content. Ein TikTok-Video kann innerhalb von dreißig Sekunden Spaß rüberbringen. Wenn einem auf den Socials ein Video innerhalb der ersten Sekunden nicht zusagt, wischt man weiter. Diese „Tiktokisierung des Radios“ mag uns vielleicht nicht gefallen. Aber sie ist die neue Realität.
Andererseits wissen wir ja, was unsere Hörer vom Musiksender ihres Vertrauens erwarten:
Unterhaltung und gute Stimmung. Machen wir mehr draus. Wir können das.
Viel Spaß dabei,
Eure
Yvonne
Januar 2024: Yvonne Malak: Strategie-Lehrstück aus Österreich
Februar 2024: Yvonne Malak: Haut mal auf die K…e!
Yvonne Malak
Das Moderationshandbuch: Alles, was Radio-Profis wissen müssen
201 Seiten
ISBN 3848782723
39,00 € Nomos
Yvonne Malak ist Radioberaterin und berät eine Vielzahl von Radiostationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Yvonne Malak schreibt monatlich für die radioWOCHE. Die nächste Ausgabe erscheint am 01. Dezember 2024.
Alle bisher veröffentlichten Publikationen von Yvonne Malak finden Sie auch unter www.my-radio.biz/category/publikationen/radiowoche/