Spotify startet Doku-Podcast “190220 – Ein Jahr nach Hanau”

Heute jährt sich der rassistisch motivierte Anschlag in Hanau, bei dem neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen wurden, zum ersten Mal. Spotify hat aus diesem Anlass in den vergangenen Tagen die Auftaktfolgen seines neuen Doku-Podcasts “190220 – Ein Jahr nach Hanau”, der sich mit den Ereignissen in Hanau und ihren Nachwirkungen auseinandersetzt, veröffentlicht. Entstanden ist „190220“ in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Studio ACB Stories aus Berlin.

Spotify ist längst mehr als nur ein reiner Musikstreamingdienst, hat sich mittlerweile auch als eine der führenden Podcast-Plattformem in Deutschland und weltweit etabliert. Die Schweden setzen dabei vermehrt auf sogenannte Originals und Exclusives, also Eigenproduktionen wie eben „190220“ oder exklusiv an Spotify gebundene Podcasts, also auf Inhalte, die es nur dort zu hören gibt. Neben zahlreichen Personality-Formaten wie „Fest & Flauschig“, „Podkinski“ oder „Gemischtes Hack“ tritt Spotify seit einiger Zeit auch immer wieder mit Dokumentationen und Reportagen über aktuelle gesellschaftliche Themen in Erscheinung.

“Der 19.02.2020 ist mir noch in sehr trauriger Erinnerung. Wir haben danach überlegt, wie wir diesem politisch und gesellschaftlich wichtigen Ereignis eine Plattform und die notwendige Aufmerksamkeit geben können. Um einen Beitrag zur Erinnerung und Aufarbeitung zu leisten, haben wir uns für einen aufwändig produzierten und recherchierten dokumentarischen Podcast entschieden”, so Saruul Krause-Jentsch, Head of Studios bei Spotify DACH (Deutschland/Österreich/Schweiz).

Mischung aus Reportage und Gesprächen mit Expertinnen und Experten

Die Podcast-Serie, die sechs Folgen umfasst, folgt einem Konzept, das auf zwei Ebenen aufbaut. Einerseits einer Vor-Ort-Reportage, für die das Redaktionsteam mehrere Tage in der im Rhein-Main-Gebiet gelegenen 100.000-Einwohner-Stadt unterwegs war und Interviews mit Hinterbliebenen, Überlebenden und Betroffenen geführt hat. Und andererseits einer analytischeren Ebene, die nach den größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen fragt und potentiellen Strukturen nachspürt. „Wir haben mit der Reportage, also der emotionaleren Ebene, angefangen. Uns war es wichtig, erst die Angehörigen der Opfer und ihre Geschichten kennenzulernen und zu verstehen, was sie beschäftigt und wofür sie kämpfen“, sagt Viola Funk, Produzentin bei ACB Stories und Teil des vierköpfigen Redaktionsteam hinter dem Podcast, über den Entstehungsprozess. Die Autorin Şeyda Kurt hat für den Podcast zudem neun Texte über die Opfer von Hanau geschrieben und eingelesen.
Den Part, nach den übergeordneten Zusammenhängen zu fragen, übernehmen zwei Hosts – die Journalistin Sham Jaff und die Reporterin Alena Jabarine. Sie blicken auf die gesamtgesellschaftliche Sphäre, behandeln Themen wie das Waffenrecht, den Umgang mit Gefährdern und das Problem des Alltagsrassismus. Hierfür sprechen sie mit unterschiedlichen Expertinnen und Experten wie der pädagogischen Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank, Saba-Nur Cheema, mit Karolin Schwarz, Expertin für Rechtsextremismus im Netz, oder mit der Journalistin Hadija Haruna-Oelker – aber auch mit jungen Aktivistinnen und Aktivisten, für die die schockierenden Ereignisse in Hanau den Anfangspunkt bildeten sich zu engagieren.

Anschlag in Hanau hat besonders viele junge Menschen tief bewegt

„Im Rahmen der Recherchen für den Podcast hat sich herausgestellt, dass Hanau auch deshalb ,besonders‘ ist, weil es ein Attentat ist, das sich vor allem gegen die junge Generation gerichtet hat. Und das hat wahrscheinlich auch dazu geführt, dass viele junge Leute es bewusster wahrgenommen und in verschiedenen Formen künstlerisch aufgearbeitet haben“, sagt Alena Jabarine. Beeindruckt hat die beiden Podcast-Macherinnen die Stärke der betroffenen Familien, die sich schon kurz nach der Tat zu der Initiative 19. Februar zusammengeschlossen haben, um auf diesem Weg für ihre Rechte und eine vollständige Aufklärung der Hintergründe des Falles einzutreten. Die Ereignisse in Hanau wirkten und wirken immer noch auch jenseits von Hanau und Hessen nach – schon kurz nach der Tat erinnerten Nutzerinnen und Nutzer bundesweit unter dem Hashtag #SayTheirNames in den Sozialen Medien an die Opfer des Anschlags. Heute wird zum Beispiel der Radiosender FluxFM um 17.30 Uhr auf seinen UKW-Frequenzen in Berlin und Hamburg um 17.30 Uhr der Opfer gedenken und deren Namen verlesen.

Podcasts bieten Chance für Spontanität

Was sind eigentlich die Besonderheiten bei einem dokumentarischen Podcast, welche Möglichkeiten eröffnet das Medium im Vergleich zu TV und Video? „Podcasts bieten – besser als ein Fernsehbeitrag oder ein Artikel – die Gelegenheit, Menschen wirklich zuzuhören, sie über die Stimme kennenzulernen und ganz anders mit ihnen zu connecten“, beschreibt Viola Funk die Freiheiten, die das Medium und das serielle Erzählen mit sich bringen. „Es war uns sehr wichtig, den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern viel Platz zu geben, und nicht drei Aussagen aneinander schneiden zu müssen“, fährt sie fort. „Die meisten hätten niemals mit uns gesprochen, wenn wir eine Kamera dabei gehabt hätten“, sagt Jabarine, die sonst viel für das NDR TV- und Video-Format Strg+F im Einsatz ist, über die Recherchen in Hanau. Beide Formate – Video wie Audio – können ihre Vorzüge haben, eine Journalistin oder ein Journalist mit Kamerateam im Gepäck signalisiere zum Beispiel stärker vom ersten Moment an Wichtigkeit. Bei einer Kontaktaufnahme oder einem Interview, ausgestattet nur mit einem Audio-Aufnahmegerät, ohne Kamera, kann dafür oft eine direktere Gesprächssituation entstehen, ergeben sich mehr Möglichkeiten, spontan zu reagieren. „Wir sind zu Leuten nach Hause gegangen, sie haben uns ins ihr Wohnzimmer eingeladen, wir waren am Jugendzentrum, sind mit einem Bekannten der Opfer mit dem Auto durch die Stadt gefahren. Dadurch entsteht sehr viel im Moment, situative Sachen, die man per Mikrofon gut mitnehmen kann“, so Funk.

Sounddesign und Original Music von Grimme-Preisträger Bazzazian

Auch der Sound bildet dies ab: “Alena ist mit Leuten durch das Viertel und an die Tatorte gegangen, zum Beispiel an das Denkmal von Vili-Viorel Paun, das an einem Discounter-Parkplatz liegt. Wir haben uns nicht extra ruhige Räume gesucht, um zu sprechen. Man hört die Einkaufswagen klappern, ist gleich in einer Situation drin“, beschreibt sie das Sounderlebnis im Reportage-Teil. Die Original-Musik, die im Podcast zu hören ist, und das Sounddesign stammen vom Hip Hop-Produzenten Bazzazian, bekannt u.a. durch seine Arbeit mit dem Rapper Haftbefehl aus Offenbach, das nicht weit von Hanau entfernt liegt. Für die in Frankfurt am Main spielende Netflix-Serie „Skylines“ fungierte Bazzazian als Musical Supervisor „Diese Musik ist sehr atmosphärisch, dringlich, ein sehr trappiger Sound“, beschreibt Funk das Musikkonzept des Podcasts.

Viola Funk, Bild: Fabian Brennecke

Im Umgang mit solch einem sensiblen Thema wie dem Anschlag in Hanau, hat der Einsatz emotionalisierender Stilmittel natürlich seine Grenzen. „Es ist eben kein fiktionaler Thriller, sondern das echte Leben von Menschen“, beschreibt Viola Funk diese Gratwanderung und den Versuch jedwede Form von Über-Inszenierung zu vermeiden. Denn die Schilderungen in den Gesprächen sind oft emotional genug: „Auch wenn du überhaupt nicht viel gefragt hast, den Familienangehörigen einfach das Mikrofon hingehalten hast, war das, was kommt, unglaublich bewegend, verstörend und erschreckend“, sagt Alena Jabarine über die Interviews, die einen großen Teil des Podcasts ausmachen.

Alena Jabarine, Bild: Spotify/TBA

“Wie konnte es (schon wieder) dazu kommen?“ – die Suche nach Antworten

„In Bezug auf die Behörden gibt es zwei große Fragekomplexe, die im Podcast angesprochen werden. Einmal: Was ist vor der Tat passiert oder nicht passiert. Und dann der Umgang mit den Betroffenen nach der Tat, da gibt es auch viele Fragen, die man stellen muss und die wir auch gestellt haben“, fasst Jabarine die inhaltlichen Schwerpunkte im Analyse-Teil zusammen. Abschließende Antworten könne es zum jetzigen Zeitpunkt – ein Jahr nach der Tat – natürlich vielfach noch nicht geben, die Aufarbeitung der Geschehnisse stehe erst am Anfang. Gemeinsam mit den Expertinnen und Experten will sich der Podcast allerdings möglichen Konsequenzen, die aus dem Hanauer Fall zu ziehen sind, annähern – wie zum Beispiel der Frage, ob der Zugang zu Waffen nicht in bestimmten Fällen stärker reguliert werden muss und die Waffenbehörden generell Waffenbesitzerinnen und Waffenbesitzer häufiger kontrollieren und ihren Background intensiver checken sollten.

„1902020 – Ein Jahr nach Hanau“ kann auf Spotify (im werbefinanzierten Angebot wie auch bei Spotify Premium) gehört werden.

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