Yvonne Malak: Die Zielgruppe – das (un-) bekannte Wesen

Seine Zielgruppe zu kennen ist die Grundvoraussetzung, um diese inhaltlich und über On Air Persönlichkeiten an einen Sender zu binden. Logo.

Aber was genau ist eigentlich diese vielzitierte Zielgruppe? Sind das z.B. Steffi, Mia und Sandy – alle drei Mitte, Ende 20, alles moderne Berlinerinnen mit großem Freundeskreis und Spaß am Ausgehen?

Mitnichten!

Steffi, 27, wohnt in einer 2- Zimmer Wohnung in Steglitz, schaut GNTM, arbeitet 37,5 Stunden pro Woche in einem Anwalts-Büro, trifft sich am Wochenende mit der Clique in Clubs und träumt von Ehe und Kindern. Sie isst wenig Fleisch, achtet auf die Umwelt, kauft bei DM oft die Bio-Marken, bei H&M vorzugsweise die nachhaltige Linie aber auch mal Fast Fashion bei Zara und braucht dank Car Sharing und ÖPNV kein eigenes Auto. Sie ist im Hier und Jetzt angekommen, achtet auf die Umwelt, ist aber auch durchaus skeptisch, was die Globalisierung betrifft und lehnt Extreme und radikale Lebensweisen ab.

Mia, 26, wohnt in einer WG in Friedrichshain, arbeitet als freie Grafikerin für ein Independent-Label und verdient dabei gerade so viel, wie sie zum Leben braucht. Ihre Ernährung ist streng vegan. Ihre Lebensmittel bezieht sie hauptsächlich vom Ökobauern. Für eine „Bessere Welt“ engagiert sie sich bei den Aktivisten „Letzte Generation“. Klamotten kauft sie billig auf dem Flohmarkt. Sie braucht nicht viel, da sie eh nichts wegwirft. Ein TV-Gerät besitzt sie nicht, Autofahren lehnt sie komplett ab und LGBTQIA* kann sie aus dem Stand definieren.

Sie versteht sich als das „Gute Gewissen der Erde“ und sieht sich und ihre Peer-Group als Treiber des grundlegenden Wandels.

Sandy, 28, hat mit Freunden ein Start-Up gegründet, arbeitet dafür 60 Stunden pro Woche in ihrem gemeinsamen Büro in Mitte, besitzt die neusten technischen Gadgets und kauft coole Fair-Fashion Labels, bei denen eine Jeans schon mal 300 Euro kostet. Sie fährt einen Tesla, ihre Wohnung ist als Smart Home auf dem neuesten Stand der Technik und braucht vergleichsweise wenig Energie. Gegenüber Menschen wie Steffi hat sie ein Überlegenheitsgefühl. Und auch wenn sie umweltbewusst lebt, sieht sie Menschen wie Mia als realitätsfremde Moralisierer, deren radikale Sichtweisen ihr auf die Nerven gehen.

Drei Frauen Mitte/Ende 20 aus Berlin, alle drei berufstätig und viel unterwegs.

Ihre Lebenswelten sind Zusammenfassungen aus den neuen Sinus-Milieus – nichts davon ist erfunden, alle Eigenschaften, Ansichten, Lebensweisen finden sich in den Beschreibungen der einzelnen Milieus wieder.

Klar ist: Was Mia gut findet, bringt Sandy und Steffi auf die Palme. Sandy und Steffi haben zwar einen ziemlich ähnlichen Musikgeschmack und trotzdem leben auch sie in unterschiedlichen Welten.

Drei Frauen, drei Lebenswelten.

Bräuchte man jetzt drei unterschiedliche Radioprogramme, um alle drei zu erreichen? Nein!

Man braucht nur klare Grenzen für Themen und Inhalte. Und etwas Zeit und Arbeit, um die Gemeinsamkeiten in den Milieus zu finden. Aus diesen Gemeinsamkeiten wiederum ergeben sich kompatible Themenwelten.

Details dazu findet man in den neuen Sinus-Milieus. Die Sinus-Milieus sind ein Gesellschaftsmodell. Sie fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen.
Die Übergänge zwischen den Milieus sind dabei fließend. Die Sinus-Milieus verdeutlichen, was die verschiedenen Lebenswelten bewegt (Werte, Lifestyles).

Spoiler: die Zielgruppe um „Mia“ können wir getrost Nischen-Formaten überlassen. Was Mia gut findet, polarisiert in fast allen anderen Zielgruppen.

Während Mia vermutlich zum Neo-Ökologischen Milieu gehört, das mit allen anderen Milieus fast gar nichts gemeinsam hat und das man inhaltlich nicht bedienen kann, wenn man die Mitte-Milieus als Zielgruppe hat bzw. braucht, gehört Sandy zur Gruppe der Expeditiven, Steffi zur Adaptiv-Pragmatischen Mitte. Teile von Steffis Clique sind vermutlich auch im Bürgerlichen Milieu zu finden. Steffi und Sandy haben beide Freunde im Milieu der Performer. Mia dagegen bleibt weitgehend in ihrer „Blase“. Es gibt also gerade bei Steffi und Sandy Trennendes und Gemeinsames.

Hier die Definition der einzelnen Milieus:

Was sagt uns das jetzt für die Bereiche Themenfindung und Inhalte in unserem Radioprogramm?

  1. Wir dürfen niemals von uns als Machern ausgehen. Ich frage mich z.B., was einen Mainstream AC-Sender im Januar bewogen hat, den Vegan-Uary auszurufen und über vegane Ernährung zu berichten.

Sandy ernährt sich zwar bewusst und kauft ihr Fleisch in der Bio-Abteilung, aber ganz bestimmt lässt sie sich nicht vorschreiben, auf was sie zu verzichten hat. Steffi hat ganz andere Sorgen, schon allein, weil sie sich 100% Bio gar nicht leisten kann. Steffis Freunde haben Kinder und vegane Ernährung sowie der CO2 Abdruck von Kuhmilch stehen bei ihnen nicht auf der Prio-Liste ihrer aktuell zu lösenden Probleme.

Aber vielleicht saßen ja eine Menge Mias bei besagtem Sender in der Redaktionskonferenz?

  1. Es ist sehr hilfreich, sich damit auseinanderzusetzen, wie die Zielgruppen “ticken“ und vor allem, was sie ablehnen. Wie in der Musik gilt auch bei Themen: „Was wir nicht senden, kann uns nicht schaden“.

Spoiler: alles, was sich extrem vom „durchschnittlichen“ Leben unterscheidet, trifft in den mittleren und oberen Mitte-Mileus (und das ist die große Masse zwischen 20 und 60 in Deutschland!) auf Ablehnung! Die mittleren Mitte-Milieus sind sich zwar in Sachen Umwelt z.B. durchaus der Problematik bewusst und leben anders als noch vor fünf oder zehn Jahren. Gleichzeitig lehnen sie radikale Maßnahmen und „Moralisierer“ (Wording aus den Befragungen übernommen!) aber ab. Zusammen mit den Konsum-Hedonisten können sie mit LGBTQIA* nicht allzu viel anfangen.

In Sachen Globalisierung gibt es in einigen dieser Zielgruppen Ängste und Sorgen, eher zu den Verlierern zu gehören.

  1. Wer sich mit den alten Sinus-Milieus auseinandergesetzt hat, sollte seine Analyse anpassen. Es hat sich allein zwischen 2018 und 2021 viel geändert!

Die Werte der Sozialökologischen sind in den 20er Jahren in den anderen Mitte- Milieus aufgegangen. Die Hedonisten gibt es so nicht mehr. Dafür ist „rechts außen in der Kartoffelgrafik“ das Milieu der Neo-Ökologischen Mia dazu gekommen.

  1. Einen sehr effektiven Bewusstseins-Booster finde ich, dem Programm-Team die Milieus und deren Lebenswelten vorzustellen und die Kollegen dann zu bitten, sich selbst einzuordnen und dann die Milieus der Kernzielgruppen zu definieren. In den meisten Sendern werden die Unterschiede zwischen unserer Radiomacher-Lebenswelt und der der Kernzielgruppen im wahrsten Sinne des Wortes er-SICHT-lich…

Mich durch alle Daten (kostenpflichtige Daten wohlgemerkt) durchzuwühlen, hat mich viele, viele Stunden gekostet. Aber es war die Mühe wert! Diese Daten helfen in Themenkonferenzen sofort zu wissen, was passt und was nicht, sie helfen beim Launch und der Konzeption einer Morgenshow und sie helfen vor allem dem eigenen Bewusstsein beim Radiomachen: wir leben alle in einer Blase! Und um unsere Hörer optimal zu bedienen, müssen wir diese Blase verlassen. Jeden Tag aufs Neue! Am Ende steht ein (noch) besseres inhaltliches Radioprogramm. Versprochen!

Deine
Yvonne Malak

Yvonne Malak
Das Moderationshandbuch: Alles, was Radio-Profis wissen müssen
201 Seiten
ISBN 3848782723
39,00 € Nomos

Yvonne Malak ist Radioberaterin und berät eine Vielzahl von Radiostationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Yvonne Malak schreibt monatlich für die radioWOCHE. Die nächste Ausgabe erscheint am 01. April 2024.

Alle bisher veröffentlichten Publikationen von Yvonne Malak finden Sie auch unter www.my-radio.biz/category/publikationen/radiowoche/

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