Martin Liss: Radio wird sterben. Es lebe das Radio!

Grönemeyer hat recht: Stillstand ist der Tod, geht voran, bleibt alles anders. Fragen Sie mal bei Kodak oder Nokia. Wer ernsthaft glaubt, dass die digitale Disruption der Welt ausgerechnet vor dem Radio halt macht, der wird auch glauben dass das Internet eine Laune der Natur sei, die bald wieder vorbeigeht. Jeder weiß daß das Quatsch ist.

Podcasting und Audio-on-Demand, Spotify, Audible, iTunes, Deezer, Lautgut, Acast und Alexa und Sonos, und vielleicht demnächst auch Luminary und Swoot – all diese kleinen und großen neuen Mitspieler machen was mit dem Hören. Gut so: Hören macht Spaß, Hören ist sexy und Hören ist das neue Sehen.

Und was machen wir, wenn Amazon nicht nur die Bundesliga-Übertragungsrechte, sondern auch die 30 besten deutschen Moderatoren kauft?

Die Wahrheit ist: Nichts wird sein wie jemals zuvor. Nicht mal die heilige Media-Analyse, dieses Faktotum aus der Marktforschungs-Steinzeit von Festnetzanschlüssen und Erinnerungsabfragen im Viertelstundentakt: nicht mal die MA wird für immer bleiben.

Seit Jahren blicke ich (meistens) in nickende Gesichter, wenn ich solche Weisheiten von den Kongressbühnen dieser Welt herunter verkünden darf. Und dann kommt diese eine Zwischenfrage (sie kommt immer!): Aber dem Radio geht es doch gut! Radio wird millionenfach konsumiert, ist nachgewiesenermaßen journalistisch höchst glaubwürdig und steht als Fels in der Brandung im Tagesablauf von Millionen Menschen. Radio gibt’s ja sogar auch im Internet, und Radio verdient nicht zuletzt gutes Geld. Wo also ist genau das Problem?

Das Problem ist genau das: Dass es dem Radio heute gut geht. Nokia ging’s nämlich auch gut als das iPhone kam. Nokia war Weltmarktführer.

Heute als Radiounternehmen an der zukünftigen Relevanz seiner selbst zu arbeiten ist ein bisschen wie mit Klimawandel, Cholesterin und Nazis. Man muss jetzt etwas tun, obwohl man erst in ein paar Jahren merkt wie richtig und wichtig das ist – beziehungsweise wie richtig und wichtig es gewesen sein wird. Aber genau das können wir Menschen nicht besonders gut. Wir handeln üblicherweise erst wenn’s wehtut. Es weiß auch jeder, dass Rauchen ungesund ist und höchstwahrscheinlich das eigene Leben (!) verkürzt. Aber muss ich deswegen gleich damit aufhören?

Radio, dieses oft zu Recht als Kakerlake bezeichnete Urzeitwesen der Medienwelt (nicht sehr sexy, aber kaum totzukriegen), dieses Radio bedient ein uraltes Grundbedürfnis: Erzähl mir eine Geschichte! Radio ist glaubwürdig, löst Emotionen aus und kann ganz ohne Bilder ganz tolle Bilder machen. Radio schafft auch heute noch unvergessliche gemeinsame Erlebnisse. Radio ist das älteste soziale Medium der Welt, und wahrscheinlich auch das beste. Der Zauber des Hörens lässt uns das Menschsein erleben.

Und da liegt die Herausforderung für das Management von Radiosendern heute: Sie müssen nicht das Radio selbst, sondern das Erlebnis „Hören“ neu erfinden. Und zwar jetzt. Wenn wir Radiomanager diese digitale Zukunft nicht gestalten, dann werden das Andere tun. Moment: Sie tun es längst. Die schiere Existenz von Spotify ist, streng genommen, ein „Setzen, Sechs!“ für die Radiomacher der 80er, 90er und von heute. Das hat keiner kommen sehen.

Zu ihrer Verteidigung sei gesagt: Sie hatten auch nicht die unternehmerische Übung, den disruptiven Blick. Sie haben es, in diesem Sinne, immerhin besser gemacht als Nokia und Kodak. Denn Radio gibt es ja noch.

Also: Was ist jetzt zu tun?

Im Kern geht es darum, vier Denksportaufgaben zu lösen:
1. Wie kann ich meine Radiomacher-Kompetenz in die neue Welt des disruptierten Hörens übertragen?
2. Wie kann ich meinen Markenvorsprung in der unübersichtlichen Welt des Internets bestmöglich ausspielen?
3. Welche Spielregeln zu Audio-Konsum und -Kommerzialisierung aus der neuen Welt muss ich erlernen?
4. An welchen Stellen muss ich das seit Jahrzehnten unumstößliche Mantra „mein Sender, mein Sender über alles“ hinter mir lassen und über den eigenen Schatten springend Allianzen schmieden, damit es später überhaupt noch was zum Senden gibt?

Zusammengefasst:
Denken Sie nie mehr nur wie ein Radiosender. Denken Sie auch wie ein Start-Up. Begrüßen Sie das Ausprobieren, das Neu-Denken, das Lernen durch Scheitern, das nochmal und dieses Mal besser machen. Das weniger „deutsche“ Arbeiten. Da müssen Sie jetzt nicht nur durch, da müssen Sie jetzt ran.

Oder im Beratersprech:
Hören Sie auf, Ihren Sender ausschließlich wie eine Cash Cow zu managen. Konventionelle Radiosender sind (hoffentlich) Cash Cows, die Radiobranche als solche ist es ganz bestimmt: relativ gesehen guter Marktanteil, relativ geringes Marktwachstum. Gut so. Also: Kosten kontrollieren, Qualität sichern, Kurs halten, Gewinne sinnvoll reinvestieren.

Ihre Aufgabe als guter Chef ist: Managen Sie Teile Ihres Radiosenders nicht wie eine Cash Cow, sondern wie ein Question Mark, ein Fragezeichen: (noch) geringer Marktanteil bei (mutmaßlich) hohem Wachstum. Managen Sie zumindest den digitalen Teil Ihres Hauses wie ein Start-Up, in das Sie investieren. Sie haben gegenüber vielen Start-Ups sogar einen großen Vorteil – denn Sie wissen ja schon, dass Ihr Konzept grundsätzlich funktioniert: Das Hören.

Also finden Sie die Sweet Spots Ihrer Programm-, Marken- und Vermarktungskompetenz, allokieren Sie Ressourcen, definieren Sie erreichbare Ziele, und ertragen Sie es, diese Ziele eventuell erst auf Umwegen und auch dann vielleicht nur teilweise zu erreichen. Lernen Sie, tatsächlich aus Rückschlägen und Misserfolgen zu lernen (anstatt den zuständigen Abteilungsleiter zu feuern). Hören Sie auf, nur zu denken wie ein Radiosender.
Denn ob Sie es (heute) glauben oder nicht: Sie sind nicht mehr nur ein Radiosender.

Sie können diesen Fakt ignorieren. Dadurch wird er aber nicht weniger wahr.

Foto: Martin Liss

Martin Liss ist freier Unternehmensberater in Berlin. Er war lange Geschäftsführer in verschiedenen Mediengattungen und coacht heute Firmen und Führungskräfte insbesondere zu Themen des digitalen Wandels, zu Content- und Vermarktungsstrategien, Marketing- und Kommunikationsfragen, sowie zu Organisationsstruktur und Führung.

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